Erweiterte Besitzstandsgarantie – Stand der Praxis zur «materiellen Sichtweise» bei der Prüfung eines weitergehenden Rechtsverstosses gemäss § 357 Abs. 1 PBG
1.
In zwei Kommentaren von März 2018 und Januar 2020 habe ich mich zur «materiellen Sichtweise» geäussert, die vom Bundesgericht mit Urteil 1C_231/2017 vom 1. März 2018 eingeführt worden war. Danach darf bei der Beurteilung der Frage, ob Änderungen eines vorschriftswidrigen Gebäudes gemäss § 357 Abs. 1 PBG zu einer weitergehenden Überschreitung der Gebäudehöhe führen, nicht nur darauf abgestellt werden, ob die Gebäudehöhe im rechtlichen Sinne sich ändere oder nicht. Vielmehr ist im Einzelfall eine materielle Sichtweise geboten, die ausgehend von der bestehenden Situation zu berücksichtigen hat, ob der Aufbau des zusätzlichen Attikageschosses den Eindruck der Überhöhe erheblich verstärkt und effektiv erhebliche negative Auswirkungen für die Nachbarn erzeugt, was gegebenenfalls als unzulässiger weitergehender Rechtsverstoss zu qualifizieren ist.
2.
Gestützt darauf haben zunächst das Verwaltungsgericht und später auch das Baurekursgericht ihre bisherige Praxis aufgegeben und durch eine im Einzelfall vorzunehmende materielle Sichtweise ersetzt. Bei dieser ist das Ausmass der bestehenden Gebäudehöhenüberschreitung von zentraler Bedeutung.
In einem Urteil vom 4. Oktober 2018 erwog das Verwaltungsgericht, dass bei einer Überschreitung in einem geringfügigen Ausmass von 30 cm noch nicht davon gesprochen werden könne, dass das geplante Attikageschoss in Bezug auf den optischen Eindruck die bestehende Überhöhe massiv verstärke (VB.2018.00242, E. 5.3).
Gleich entschied es in einem Urteil vom 12. November 2020, wo die Aufstockung ein die Gebäudehöhe um 54 cm überschreitendes Gebäude betraf. Das Vorliegen einer weitergehenden Abweichung wurde verneint (VB.2020.00279, E. 4.4). Aufgehoben wurde die Baubewilligung dann jedoch wegen überwiegender entgegenstehender nachbarlicher Interessen. Das Gericht erwog, dass das projektierte Geschoss die Aussicht des Beschwerdeführers von seiner Dachterrasse aus stark beeinträchtige und ihm insbesondere den Blick in die Alpen grösstenteils nehme, was im Verein mit zwei neuen Fassadenöffnungen mit entsprechenden Einsichtsmöglichkeiten eine starke Interessensbeeinträchtigung bewirke, gegen die das Interesse der Bauherrschaft an der Realisierung des Projekts nicht anzukommen vermöge (VB.2020.00279, E. 4.6). Das verdeutlicht, dass die in § 357 Abs. 1 PBG vorbehaltene Schranke der überwiegenden nachbarlichen Interessen durchaus ein griffiges Instrument darstellt, um Aufstockungen von überhohen Gebäuden im Einzelfall zu untersagen.
In einem Entscheid vom 12. November 2021 wertete das Baurekursgericht eine Gebäudehöhenüberschreitung von 1,50 m dagegen als deutliche bzw. nicht unerhebliche Abweichung und bestätigte den Entscheid der Bausektion, welche die Baubewilligung für die Aufstockung wegen eines weitergehenden Rechtsverstosses verweigert hatte (BRGE I Nrn. 0170-0175, E. 8.5). Mit Urteil vom 6. Oktober 2022 bestätigte das Verwaltungsgericht diesen Entscheid, wobei das Vorliegen eines weitergehenden Rechtsverstosses auch mit einer Beeinträchtigung der Aussicht und vermehrtem Schattenwurf für den Nachbarn begründet wurde (VB.2021.00840, E. 4.4). Das Ergebnis wäre damit kein anderes gewesen, wenn die kantonalen Gerichte auf eine materielle Sichtweise verzichtet und nur eine umfassende Interessenabwägung vorgenommen hätten, was nach der hier vertretenen Ansicht dogmatisch korrekt wäre. Aufgrund einer Beschwerde des Bauherrn wird das Bundesgericht in nächster Zeit Gelegenheit haben, seine Rechtsprechung zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen.
3.
Die materielle Sichtweise bei der Prüfung eines weitergehenden Rechtsverstosses blieb bis heute auf die Aufstockung überhoher Gebäude beschränkt. Das Baurekursgericht lehnte es in einem Entscheid vom 4. Oktober 2019 ab, die geänderte Rechtsprechung auf die Aufstockung einer grenzabstandswidrigen Baute anzuwenden (BRGE I Nr. 0127/2019 in BEZ 2020 Nr. 16).
Ebenso wenig führt eine Attikageschossaufstockung bei einem Gebäude, das die Ausnützung bereits überschreitet, zu einer weitergehenden Abweichung von den Ausnützungsvorschriften, sofern das Attikageschoss nicht mehr Nutzfläche aufweist als ein durchschnittliches Vollgeschoss (1C_231/2017, VB.2021.00840, E. 6.2). Unter dieser Prämisse fällt das zusätzliche Geschoss rechtlich gesehen bei der Ermittlung der Ausnützung ausser Ansatz, womit es auch keine weitergehende Überschreitung bewirkt. Dass die Ausnützung auf dem Grundstück effektiv weiter erhöht wird, spielt nach der Gerichtspraxis keine Rolle. Eine materielle Betrachtungsweise wird hier also nicht vorgenommen.